Schließen Sie doch mal kurz die Augen und stellen Sie sich Wissenschaftler*innen vor. Wie sehen diese bei Ihnen aus? Denken Sie an eine bestimmte Person oder an spezielle Merkmale? Könnten Sie persönlich äußerlich auch als Wissenschaftler*in durchgehen oder sehen Sie ganz anders aus?
[Anmerkung zum Text: Ich rede im Text von „Lerner*innen“ und „Lehrer*innen“. Diese Bezeichnungen beziehen sich nicht nur auf Personen in der Schule, sondern beispielsweise auch auf die Ausbildung und auf alle weiteren Lernumfelder.]
Was glauben Schüler*innen, wie Wissenschaftler*innen aussehen? Als ich den Titel der Studie gelesen habe, musste ich erst mal ein bisschen lächeln. Heutzutage kenne ich einige Wissenschaftler*innen und weiß auch wie diese aussehen, aber was hätte ich wohl selbst damals als Schülerin geantwortet? Mein zweiter Gedanke war dann die Frage, ob man dazu überhaupt eine Studie braucht. Was bringt es denn, wenn man weiß, wie Schüler*innen sich Wissenschaftler*innen vorstellen? Doch diese Frage hat mehr Tiefgang als man auf den ersten Blick vermuten würde.
Die Forscherin Ramona Hagenkötter und Kolleginnen aus der Ruhr-Universität Bochum sind der Frage nachgegangen und haben 74 Schüler*innen der achten bis zehnten Klasse befragt, die ein Schülerlabor besuchten. Die Schüler*innen bearbeiteten dazu eine Fotosortieraufgabe. Diese zeigte vier Personen – einen jungen Mann, einen älteren Mann, eine junge Frau und eine ältere Frau. Jede Person wurde nebeneinander in vier verschiedenen Bildern präsentiert und dabei jeweils zwei Merkmale verändert bzw. kombiniert. Bei Frauen wurden die Merkmale Brille und Styling (Schminke und Schmuck) variiert, bei den Männern die Merkmale Bart und Brille. Dabei sahen die Schüler*innen beispielsweise vier Fotos eines jungen Mannes nebeneinander:
- Bild 1: ohne Brille und ohne Bart;
- Bild 2: mit Brille und ohne Bart;
- Bild 3: ohne Brille und mit Bart;
- Bild 4: mit Brille und mit Bart.
Die Schüler*innen sollten dann bewerten, wie ähnlich die vier Bilder ihren Vorstellungen von Wissenschaftler*innen sind. Dazu ordneten sie die Bilder danach, wie typisch sie diese fanden. Die zwei Bilder von jeder Person, die sie Wissenschaftler*innen am ähnlichsten bewerteten, kamen dann in einer Endrunde zusammen. Dort ordneten die Schüler*innen die Bilder ein weiteres Mal. Zusätzlich beantworteten die Schüler*innen einen Fragebogen und einige von ihnen wurden zusätzlich interviewt.
Heraus kam, dass die Schüler*innen häufiger ältere Personen mit Brille ausgewählt hatten. Diese entsprachen am ehesten ihrem Bild von Wissenschaftler*innen. Am typischsten waren ältere Männer mit Brille und ohne Bart. Auf dem zweiten Platz waren ältere Frauen, die ebenfalls eine Brille trugen und ungestylt waren.
In den Interviews wurden zum Teil Schüler*innen befragt, deren Antworten diesem Muster entsprachen. Diese gaben an, dass Brillen einen schlauer aussehen lassen oder man diese braucht, wenn man viel liest. Die Auswahl älterer Personen begründeten sie damit, dass diese eine lange Ausbildung absolviert haben und über mehr Erfahrungen verfügen als jüngere Menschen. Es wurden aber auch Schüler*innen interviewt, die Personen gewählt hatten, die nicht dem Muster entsprachen. Diese konnten ihre Auswahl aber weniger gut begründen oder gaben an, nicht einem Stereotyp bedienen zu wollen.
Darüber hinaus zeigten sich auch Geschlechterunterschiede, bei denen sich unter anderen zeigte, dass Schüler häufiger Wissenschaftler wählten, während Schülerinnen beide Geschlechter gleichermaßen als typische Wissenschaftler*innen bewerteten. Die Forscherinnen brachten die Einschätzungen aber auch mit anderen Variablen der Schüler*innen zusammen. Dabei zeigte sich unter anderem der Zusammenhang, dass Schüler*innen, die das Merkmal „älter“ für Wissenschaftler*innen auswählten, weniger Interesse und Freude an Mathematik hatten.
Jetzt könnte man schlussfolgern, dass es ja eigentlich egal ist, wie sich Schüler*innen Wissenschaftler*innen vorstellen. Das ist es aber nicht, wie der theoretischer Hintergrund der Studie zeigt. Zum einen denken Schüler*innen bei Wissenschaftler*innen häufig nur an Naturwissenschaften und MINT-Fächer und weniger an Sozial- und Geisteswissenschaften. Des weiteren Beeinflussen die Vorstellungen der Schüler*innen auch deren Sichtweise, Verständnis und Einstellung gegenüber Wissenschaft. Doch nicht zuletzt beeinflusst es auch die Berufsorientierung der Schüler*innen. Diese wählen Berufe auch danach aus, wie ähnlich prototypische Personen ihnen selbst sind („Selbst-Protypen-Abgleich“). Habe ich als Schülerin beim Thema Wissenschaft beispielsweise nur ältere, männliche Vertreter in meiner Vorstellung, empfinde ich diese als maximal unähnlich zu mir selbst und denke daher, dass dieser Beruf nicht zu mir passt. Somit habe ich möglicherweise auch weniger Interesse an bestimmten Fächern und Themen. Ganz anders wäre es jedoch, wenn ich bereits junge Forscherinnen kennengelernt hätte, da diese mir selbst ähnlicher wären.
Was kann man tun, um den Stereotypen von Schüler*innen entgegenzuwirken? Zum einen könnte man darauf achten, eine Bandbreite verschiedener Wissenschaftler*innen in verschiedenen Fächern zu präsentieren, z.B. indem man nicht nur einen Namen, sondern auch ein Foto dazu zeigt. Auch die Besuche in Schülerlaboren oder die Einladung von Wissenschaftler*innen in den Unterricht/Bildungseinrichtung können hilfreich sein. Vor allem die Berichte von jüngeren Wissenschaftler*innen (z.B. Student*innen oder Doktorand*innen) können den Schüler*innen helfen, ein Bild von Wissenschaftler*innen aufzubauen, das dem eigenen Bild nahe ist.
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Quelle: Studie (Open Access/ frei zugänglich):
Hagenkötter, R., Nachtigall, V., Rolka, K. & Rummel, N. (2021). „Meistens sind Forscher älter, meist tragen die eine Brille“ – Schülervorstellungen über Wissenschaftler*innen. Unterrichtswissenschaft, 49(4), 603–626. https://doi.org/10.1007/s42010-021-00110-1