Mythos Lerntypen & Lernstile

Haben Sie schon mal einen Lerntypentest gemacht? Erinnern Sie sich noch an das Ergebnis? Haben Sie Ihr Lernen daran ausgerichtet? Auf das Konzept der Lerntypen und die dazugehörigen Tests trifft man häufig in der Praxis – ein guter Grund mal genauer hinzusehen…

[Anmerkung zum Text: Ich rede im Text von „Lernern“ und „Lehrern“, gemeint sind damit grundsätzlich alle Geschlechter. Außerdem beziehen sich diese Bezeichnungen nicht nur auf Personen in der Schule, sondern beispielsweise auch auf die Ausbildung und auf alle weiteren Lernumfelder.]

Was sind Lerntypen und Lernstile?

Gemäß der Lernstil-Theorie bevorzugen Lerner einen bestimmten Sinneskanal, um erfolgreich zu lernen. Nach einem Lernstil-Test werden Lerner dann verschiedenen Typen zugeordnet, z.B. dem visuellen, auditiven, haptischen oder intellektuellen Typ. Passend zum Lerntyp bzw. Lernstil soll der Lerner dann entsprechende Formen der Instruktion und Lernmaterialien erhalten sowie sein eigenes Lernverhalten daran orientieren.

Welche Annahmen der Theorie sind richtig und welche nicht?

Die Lernstil-Theorie beruht auf ein paar Annahmen, die auch von Bereichen der Kognitions- und Lernpsychologie gestützt werden: Richtig ist, dass Lerner sich in vielen Aspekten und Voraussetzungen unterscheiden. Diese Unterschiede, die das Lernen beeinflussen, sollten Lehrer in ihrem Unterricht berücksichtigen. Lerner unterscheiden sich beispielsweise in ihren Fähigkeiten, ihrer Intelligenz, ihrem Interesse und ihrem Vorwissen. Manche Lerner haben sogar Lernschwierigkeiten oder -störungen, die beachtet werden sollten.

Jedoch beinhaltet die Lernstil-Theorie auch Annahmen, die wissenschaftlich nicht haltbar sind: Zwar berichten Lerner, dass sie beim Lernen Präferenzen haben, doch das bedeutet nicht, dass daraus lernförderliche Instruktionen geschlussfolgert werden können. Denn wenn diese Lerner-Präferenzen für bestimmtes Lernmaterial wissenschaftlich getestet werden, zeigt sich kein besseres Lernergebnis. Dass also gesondertes Lernmaterial für verschiedene Lerntypen sinnvoll ist, konnte wissenschaftlich noch nicht nachgewiesen werden.

Blick in die Forschung zu Lernstilen

Kognitionspsychologen haben Lernstile und die dazugehörigen Studien genauer untersucht. In einem Übersichtsartikel haben Harold Pashler, Mark McDaniel, Doug Rohrer und Robert Bjork im Jahr 2009 verschiedene Studien zu Lernstilen analysiert. Sie betonen erhebliche methodische Mängel in denjenigen Studien, die nachweisen, dass Lernstile sich positiv auf das Lernergebnis auswirken. Auf der anderen Seiten fanden die Autoren methodisch haltbare Studien, die keinen Effekt der Lernstile zeigten.

Beth A. Rogowsky, Barbara M. Calhoun und Paula Tallal wendeten im Jahr 2015 die geforderten Kriterien für Experimente von Pashler und Kollegen an, um eine Studie ohne methodische Mängel durchzuführen. Doch auch in dieser Studie gab es keinen Nachweis dafür, dass Lerner bessere Ergebnisse erbringen, wenn das Lernmaterial dem Lerntyp entspricht.

Weitere Probleme und Fragen zur Theorie der Lernstile

Die Theorie zu Lernstilen und -typen setzt Wahrnehmung bzw. verschiedene Sinneskanäle mit Lernen gleich. Deklaratives Wissen (Wissen über Fakten und Begriffe) gelangt jedoch nicht von den Sinneskanälen direkt in das Langzeitgedächtnis. Diese Annahme ist experimentalpsychologisch und neurowissenschaftlich nicht belegt. Das heißt, dass die Gedächtnisbildung nicht vom Sinneskanal abhängig ist. Darüber hinaus stellt sich zur Theorie der Lernstile und -typen die Frage, woher der intellektuelle Lerntyp seine Informationen bekommt, wenn dies nicht über die Sinneskanäle erfolgen soll. Ebenfalls unbeantwortet ist die Frage, ob Lernstile und -typen über verschiedene (Unterrichts-)Fächer und Kontexte stabil wären. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass Lerner sich zu sehr auf einen Lernstil oder -typ konzentrieren anstatt ihre Lernstrategien und -methoden passend zu den Lerninhalten auszuwählen.

Doch auch die Lernstil-Tests selbst weisen Mängel in den Gütekriterien auf, beispielsweise in der Re-Test-Reliabilität (Wird der Lerner dem gleichen Lernstil zugeordnet, wenn er den Test nach zwei Wochen erneut ausfüllt?). Hinzu kommt, dass die Lernstil-Tests auf Selbstberichten der Lerner basieren. Dafür müssen sich Lerner korrekt an ihr Lernverhalten erinnern und es auch ehrlich angeben wollen. Fraglich ist, ob etwas für Menschen auch am besten ist, nur weil sie es generell bevorzugen. Die bevorzugte Art zu lernen muss eben nicht immer die effektivste sein.

Warum erfreuen sich Lernstile trotz aller Kritik so großer Beliebtheit?

Trotz aller Kritik sind Lernstile und -typen weit verbreitet. Schon seit 1975 werden zu der Theorie Vorträge gehalten und vor allem Bücher, Tests und Materialien verkauft. Es besteht somit vor allem ein kommerzielles Interesse.

Lehrer haben den Eindruck, dass die Theorie stimmt und sie positive Effekte bei ihren Lernern erleben. Dabei handelt es sich jedoch um selbsterfüllende Prophezeiungen: Lehrer erwarten von ihren Lernern eine bessere Leistung, nachdem sie die Lernstil-Theorie umgesetzt haben, woraufhin die Lerner auch bessere Leistungen zeigen. Lehrer sind jedoch mit dem Lerngeschehen der Lerner verbunden und nicht objektiv und außenstehend.

Darüber hinaus sind Typentests ganz allgemein sehr beliebt und auch Lerner möchten etwas über sich erfahren. Möglicherweise möchten Lerner auch als einzigartige Individuen betrachtet werden, deren Bedürfnissen man nachkommt. Nicht zuletzt sind Lernstile und –typen auch eine Möglichkeit, Misserfolge beim Lernen auf das System abzuwälzen, wenn dieses nicht auf Lernstile eingeht, anstatt die Probleme bei sich als Lerner zu suchen.

Kurzes Fazit

  • Ja, Lerner unterscheiden sich.
  • Es gibt keinen wissenschaftlichen Nachweis für die Theorie der Lernstile und -typen.
  • Das Unterrichten nach Lernstilen auszurichten ist aufwendig und teuer. Bieten Sie besser verschiedenes Material für alle Lerner an und fokussieren Sie sich auf effektive Lernstrategien und -methoden für Ihre Lerner.

Mein Kommentar:

Ich frage mich, was Lerner mit ihrer Zuordnung zu einem bestimmten Lerntyp langfristig anfangen sollen. Die meisten Bildungseinrichtungen richten sich (zum Glück) inhaltlich nicht danach. Das bedeutet, dass Lerner mit verschiedenen Lernmaterialien zurechtkommen müssen, egal welcher Typ sie laut Lernstil-Test sind. Die meisten Lehrbücher sind nicht als Hörbücher vorhanden und zu den meisten Unterrichtsstunden gibt es kein Transkript, das Lerner stattdessen lesen könnten.

Auch ich bin in meiner beruflichen Laufbahn immer wieder auf Menschen getroffen, die die Lernstil-Theorie oder andere (Persönlichkeits-)Typentests verwendet und verteidigt haben. Doch diese einfache und reduzierte Zuordnung von Menschen in Typen (oder eben auch Schubladen) ist aus meiner Sicht nicht hilfreich und sogar gefährlich. Es wird nicht berücksichtigt, dass Menschen sich verändern und ihr Handeln und ihre Reaktionen auch kontextabhängig sind. Ich verstehe den Wunsch von Lernern, etwas über sich erfahren zu wollen, doch meist die Antwort nicht simpel, sondern vielmehr komplex.

Quellen

Kirschner, P. A. (2017). Stop propagating the learning styles myth. Computers & Education, 106, 166–171.

Meinhardt, J. (2019). Gehirn und Lernen. In D. Urhahne, M. Dresel & F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf (S. 85–106). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.

Nett, U. E. & Götz, T. (2019). Selbstreguliertes Lernen. In D. Urhahne, M. Dresel & F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf (S. 67–84). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.

Pashler, H., McDaniel, M., Rohrer, D. & Bjork, R. (2008). Learning Styles: Concepts and Evidence. Psychological science in the public interest : a journal of the American Psychological Society, 9 (3), 105–119.

Rogowsky, B. A., Calhoun, B. M. & Tallal, P. (2015). Matching learning style to instructional method. Effects on comprehension. Journal of Educational Psychology, 107 (1), 64–78.

Wecker, C. & Stegmann, K. (2019). Medien im Unterricht. In D. Urhahne, M. Dresel & F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf (S. 373–393). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.