Wer seine Lerner gezielt fördern möchte, braucht gute Diagnostik. Formative Diagnostik begleitet Lerner während des Lernprozesses. Das daraus entstandene Feedback können dann Lerner und Lehrer für sich nutzen. Klingt gut, oder?
[Anmerkung zum Text: Ich rede im Text von „Lernern“ und „Lehrern“, gemeint sind damit grundsätzlich alle Geschlechter. Außerdem beziehen sich diese Bezeichnungen nicht nur auf Personen in der Schule, sondern beispielsweise auch auf die Ausbildung und auf alle weiteren Lernumfelder.]
Was ist formative Diagnostik?
Diagnostik kann in zwei Gruppen unterschieden werden: Summative Diagnostik und formative Diagnostik. Summative Diagnostik ist das, was viele Lerner bereits kennen. Lernstoff wird vermittelt und am Ende gibt es eine Prüfung, die den Lernstand ermitteln soll. Der Lerner erhält eine Note und daraus ergibt sich dann, ob der Lerner die nächste Klassenstufe oder den nächsten Kurs besuchen darf (Selektionsfunktion).
Formative Diagnostik oder auch Lernverlaufsdiagnostik kann hingegen eingesetzt werden, um die Lehr- und Lernprozesse zu steuern, zu begleiten oder auch zu optimieren. Dabei geht es nicht darum, die Lerner zu bewerten, sondern diese anhand der diagnostischen Informationen gezielt zu fördern. Gleichzeitig erhalten aber auch Lehrer wichtige Hinweise zu ihrem Lehrprozess und können diesen anhand der diagnostischen Informationen optimieren. Die Diagnostik findet nicht nur einmal am Ende einer Lerneinheit statt, sondern regelmäßig während des Lernprozesses. Es handelt sich also um einen fortlaufenden Kreislauf aus Diagnostik, sich daraus ergebendem Feedback und entsprechender Förderung für die Lerner. Um zu überprüfen, ob diese Förderung auch erfolgreich ist, schließt daher wieder die Diagnostik an. Lernverlaufsdiagnostik ist dabei eine Unterform der formativen Diagnostik, welche meist ganze Testverfahren beinhaltet.
Ein Beispiel zur Lernverlaufsdiagnostik: Stellen Sie sich vor, Sie nehmen an einem intensiven Sprachkurs teil und machen zweimal pro Woche einen Wortschatztest, der sich immer auf den gleichen Grundwortschatz bezieht. Am Anfang des Kurses kennen Sie nur wenige Worte, aber über die gesamte Kursdauer sehen Sie dann in den regelmäßigen Tests, wie Sie (idealerweise) langsam besser werden und sich ihr Grundwortschatz aufbaut. Sie können dann ihre Lernkurve über die gesamte Dauer des Sprachkurses sehen.
Die Idee der formativen Diagnostik ist keine neue, auch wenn sie in Deutschland noch nicht so richtig Fahrt aufgenommen hat. Benjamin Bloom hat seine Ideen dazu bereits 1969 veröffentlicht. Lange wurde beispielsweise Lernverlaufsdiagnostik vor allem in der Sonderpädagogik eingesetzt.
Warum sind formative Diagnostik und Lernverlaufsdiagnostik nützlich?
Lerngruppen werden immer heterogener und Themen wie Inklusion und individuelle Lernprozesse gewinnen immer mehr an Bedeutung. Daraus ergibt sich, dass Lerner gezieltere und zu ihrem Lernprozess passende Unterstützung benötigen. Nur so können sie optimal gefordert und gefördert werden. Die Unterstützung kann den Lernern aber nur dann wirklich helfen, wenn vorher festgestellt bzw. diagnostiziert wurde, was die Lerner tatsächlich brauchen. Das bedeutet, formative Diagnostik ist notwendig, um festzustellen, wo die Stärken und Schwächen der Lerner liegen.
Aus den diagnostischen Tests und Testverfahren ergeben sich dann Daten, die z.B. mit entsprechenden Normstichproben abgeglichen werden, um die Leistung der Lerner einschätzen zu können. Bei der Lernverlaufsdiagnostik erhält man jedoch nicht nur einmal diagnostische Daten über den Lerner, sondern mehrmals. So ergibt sich die individuelle Lernkurve des Lerners.
Aus der formativen Diagnostik und Lernverlaufsdiagnostik können zum einen die Lerner Feedback erhalten, wie sie in ihrem Lernprozess vorankommen. Zum anderen erhalten aber auch Lehrer Feedback über ihren Unterricht und über das Lernverhalten ihrer Lerner. Sie wissen so genauer, welcher Lerner mehr Unterstützung braucht oder was eventuell bei allen Lernern noch unklar ist, und können ihre Unterrichtsplanung danach ausrichten. Darüber hinaus können sie auch die Förderung der Lerner gezielter planen.
Gleichzeitig können die Informationen aus der formativen Diagnostik auch für Beratungsgespräche mit Lernern (oder deren Eltern) genutzt werden. Lehrer oder Berater können sich so auf konkrete Daten und nicht auf selektive Beobachtungen und Vermutungen stützen.
Wirksamkeit von formativer Diagnostik
Es wurden bereits mehrere Metaanalysen durchgeführt, die die Wirksamkeit von formativer Diagnostik untersucht haben, z.B. von McLaughlin und Yan (2017) für online Formate. Insgesamt hat diese Form der Diagnostik einen positiven Effekt auf die Lernleistung bei Schülern. Die Wirkung ist jedoch abhängig davon, wie Lehrer die Leistungsbeurteilung umsetzen.
Umsetzungsarten von formativer Diagnostik
Die formative Diagnostik kann auf verschiedenen Ebenen im Unterricht stattfinden und somit auch unterschiedlichen Planungsaufwand mit sich bringen bzw. unterschiedlich stark formalisiert sein. Sie kann spontan erfolgen, wenn die Lehrkraft in einem Unterrichtsgespräch oder einer Diskussion beispielsweise Fehlkonzepte oder Verständnislücken bei seinen Lernern aufdeckt und diese spontan aufklärt oder Lernstoff wiederholt. Lehrer können jedoch die Fragen an die Lerner auch schon in der Vorbereitung in ihren Unterricht einplanen, um gezielt diagnostische Informationen über deren Lernstand zu sammeln. Stärker formalisiert sind hingegen im Curriculum eingebettete Überprüfungen (Assessments), wie beispielsweise Hausaufgaben oder Präsentationen. Es kann sich dabei um einzelne Aufgaben oder vollständige Tests oder (psychometrische)Testverfahren handeln.
Welche Probleme gibt es in der Anwendung und Umsetzung von formativer Diagnostik und Lernverlaufsdiagnostik?
Wie immer wenn etwas sehr gut klingt, gibt es auch Hürden und Stolperfallen – so ist es auch bei der Lernverlaufsdiagnostik. Die Konstruktion von diagnostischen Tests ist aufwendig. Diagnostische Tests unterliegen zum einen psychometrischen Gütekriterien und beziehen sich auf eine große Normstichprobe. Es handelt sich hier also nicht um Tests, die man schnell mal eben selbst erstellen kann, sondern die wissenschaftlich entwickelt werden müssen.
Wenn diagnostische Tests in der Praxis eingesetzt werden, muss sich der Lehrer zuerst einarbeiten und braucht dann noch Zeit, um den Test mit den Lernern durchzuführen und auszuwerten. Das Vorgehen ist also vor allem als Papier- und Bleistifttest sehr aufwendig. Ökonomischer ist das Vorgehen da natürlich mit computergestützten oder Online-Tests, bei denen Lerner die Tests eigenständig durchführen können und die Ergebnisse automatisch ausgewertet werden.
Doch die ganze Diagnostik ist nicht zielführend, wenn Lehrer die Ergebnisse aus den Tests nicht verstehen, interpretieren und in entsprechende Fördermaßnahmen umsetzen können. Es müssen also Entscheidungen und Maßnahmen aufgrund der Datenlage aus den diagnostischen Tests getroffen werden (Stichwort: data-based decision-making). Da dies nicht immer Teil einer pädagogischen Ausbildung ist, brauchen Lehrer an dieser Stelle vermutlich zusätzliches Wissen und Trainings.
Doch auch normale Schultests, diagnostische Fragen im Unterricht oder auch Portfolios können Lehrern und Lernern regelmäßig Rückmeldung geben und als Form der formativer Diagnostik eingesetzt werden. Es müssen also nicht immer ganze Testverfahren sein.
Ein Beispiel für Lernverlaufsdiagnostik aus Deutschland: „quop„
Quop ist eine Online-Plattform für Lernverlaufsdiagnostik, die von Forschern der Universität Münster erstellt und wissenschaftlich evaluiert wurde. Sie richtet sich an die Klassenstufen eins bis sechs. Die Tests in den Fächern Deutsch und Mathematik dauern 10 bis 15 Minuten und können von den Schülern selbstständig, z.B. in einer Freiarbeitszeit durchgeführt werden. Innerhalb eines Halbjahres gibt es 8 Tests im Abstand von 3 Wochen. Sowohl die Schüler als auch die Lehrer erhalten dann Rückmeldung.
Mehr Informationen dazu finden Sie hier: www.quop.de und bei „di2Lesen – Leseförderung und Lernverlaufsdiagnostik“ auf YouTube.
Kommentar
Da ich mich schon länger mit Themen wie Feedback, selbstreguliertes Lernen und auch Portfolios beschäftige, ist mir das Thema der formative Diagnostik nicht neu. Gerade beim Thema Feedback stößt man sehr schnell auf den Punkt, dass viele Lerner sich eigentlich mehr Rückmeldung zu ihrem Lernprozess wünschen. Doch viele Lerner erhalten diese Rückmeldung eigentlich erst am Ende einer Lerneinheit in Form einer Note. Dann ist das Thema für viele Lerner jedoch eigentlich schon abgeschlossen und das nächste Thema steht vor der Tür. Viele Lerner arbeiten deshalb auch nicht gut mit ihrem Feedback oder ignorieren es sogar. Ganz nach dem Motto: Kann ich jetzt eh nicht mehr ändern, auf zur nächsten Lerneinheit. Das Feedback verpufft, weil es zu spät kam. Wenn Lerner regelmäßiger und schon im Lernprozess (also vor dem großen Abschlusstest) Feedback bekämen, könnten sie z.B. an ihrem Lernverhalten und ihren Wissenslücken noch etwas verändern. Der Arbeitsaufwand für Lehrer sinkt bei computergestützte oder Online-Testverfahren im Vergleich zur Papierversion natürlich erheblich. Doch Lerner sollten auch Methoden kennenlernen, die sie selbstständig zur Diagnostik einsetzen können – z.B. in Form von Selbsttests oder Rückmeldung von anderen Lernern. Denn um Lerner zu selbstregulierten Lernern zu entwickeln, sollte diese auch in der Lage sein, ihr Wissen selbstständig zu überprüfen.
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Quellen
Hasselhorn, M. (2017): Formatives Assessment – Möglichkeiten und Grenzen der Lernverlaufsdiagnostik für die individuelle Lernförderung. Vortrag vom 11.11.2017 in Kiel: www.youtube.com/watch?v=X-qdTm0EeI0
Schütze, B., Souvignier, E. & Hasselhorn, M. (2018). Stichwort – Formatives Assessment. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 21(4), 697–715. https://doi.org/10.1007/s11618-018-0838-7
Souvignier, E. (2019): Digitalisierung und Bildung: Computerbasierte Lernverlaufsdiagnostik. Vortrag vom 27.03.2019 in Frankfurt: www.youtube.com/watch?v=UbB8-4OtGqE