Aktivierte Rundgänge – Exkursionen mit neuem Schwung

Diesmal spreche ich im Interview mit Dr. Cornelia Dold, die jahrelang Schulklassen an einem außerschulischen Lernort betreut hat. In ihrem Promotionsprojekt erforschte sie dann, wie Schüler*innen bei Exkursionen aktiver einbezogen werden können und entwickelte „aktivierte Rundgänge“. Was das genau ist und wie es die Schüler*innen über die Exkursion hinaus fördert, lesen Sie hier:

Myriam Schlag: Conny, Du hast während des Studiums in einer Gedenkstätte gearbeitet und Schulklassen durch das Gelände und die Ausstellungen geführt. Zusammen mit einem Team hast du ganze Exkursionen und Tage für Schüler*innen gestaltet. Die Schüler*innen sollten dabei Neues lernen und Geschichte sehr nah erleben. Was waren dabei die größten Herausforderungen für eine erfolgreiche Exkursion?

Cornelia Dold: Die größte Herausforderung war, sich binnen kürzester Zeit auf die jeweilige Lerngruppe einzustellen. In kurzen Gesprächen mit den Lehrkräften unmittelbar vor Beginn einer Führung, erfährt man oft nur sehr wenig. Die ersten Minuten mit einer Lerngruppe sind daher besonders wichtig. Was wissen die Schüler*innen schon, welche Fragen haben sie mitgebracht? Wie reagieren sie auf den Lernort? Antworten auf diese Fragen zu bekommen, während man mit den Schüler*innen ein Einführungsgespräch führt, ist sicherlich eine der größten Herausforderungen.

MS: Wären da mehr Informationen im Vorfeld von den Lehrern nützlich gewesen?

CD: Auf jeden Fall. Unsere Leiterin des pädagogischen Dienstes in der Gedenkstätte hat in Vorgesprächen immer darauf hingewiesen, wie wichtig diese Informationen sind. Doch teilweise werden diese Exkursionen von Lehrkräften organisiert, die die jeweiligen Lerngruppen aber gar nicht im Geschichtsunterricht haben. Das erschwert die Arbeit natürlich in gewisser Weise. Vorgespräche zum konkreten Lernstand der jeweiligen Gruppen, aber auch über Erwartungen, und natürlich etwaige Probleme wären auf jeden Fall gut!

MS: Dann ist das ja schon mal ein erster Hinweis für Lehrer*innen, die Exkursionen planen. Wie sind du und das Team damit umgegangen, dass Schüler*innen sehr unterschiedlich am Thema der Exkursion interessiert waren?

CD: Auch hierfür ist das Einführungsgespräch ganz wichtig. In diesem muss man herausfinden, mit welchen Erwartungen die Schüler*innen an den Lernort kommen. Hier zeigen sich dann schnell auch die unterschiedlichen Interessen, aber natürlich auch das eine oder andere Mal, dass Schüler*innen eben kein Interesse an dem Thema haben. Am authentischen Ort, ist es wichtig, die Freiwilligkeit zu betonen und deutlich zu machen, dass es ein Ort der offenen Diskussion ist, an dem alle ihre Fragen stellen können. Um das Thema möglichst interessant zu gestalten und so vielleicht auch die zu erreichen, die erstmal eine eher ablehnende Haltung haben, haben wir sehr viel mit Zeitzeugenaussagen und konkreten biografischen Zugängen gearbeitet. Aber auch immer die Frage gestellt, warum ist es wichtig, dass wir uns heute mit dieser Geschichte auseinandersetzen?

MS: Nach deinem Lehramtsstudium hast du dich dann entschlossen zu promovieren und in deinem Promotionsprojekt „aktivierte Rundgänge“ für Schüler*innen gestaltet. Was sind „aktivierte Rundgänge“ und was zeichnet diese aus?

CD: „Aktivierte Rundgänge“ sind Führungen von Schüler*innen für Schüler*innen. Sie erfordern eine etwas längere Vorbereitung auf den Besuch einer Gedenkstätte, da die Schüler*innen Materialmappen zur Vorbereitung bekommen, mit deren Hilfe sie selbst zu Expert*innen einzelner Themenkomplexe des Lernortes werden. Sie zeichnet also vor allem ein selbstreguliertes Lernen aus. Besonders spannend sind die „aktivierten Rundgänge“, da Schüler*innen hier die Möglichkeit erhalten, intensiv mit Originalquellen zu arbeiten. Etwas, das im schulischen Geschichtsunterricht leider immer kürzer kommt. Ziel ist dann der gemeinsame Besuch der Gedenkstätte, bei dem die Schüler*innen sich selbst über das Gelände führen. In der Vorbereitung erarbeiten die Schüler*innen also Kurzvorträge zu ihren jeweiligen Themenschwerpunkten, die sie am Tag des Gedenkstättenbesuchs dann ihren Mitschüler*innen halten. Selbstverständlich ist hier auch immer eine pädagogische Fachkraft der Gedenkstätte mit dabei, um auf weitergehende Fragen reagieren zu können und die Schüler*innen bei ihrer Führung unterstützen zu können.

MS: Es gibt dann also keinen Tourguide mehr, der das Wissen hat und die ganze Führung übernimmt, sondern die Schüler*innen werden selbst aktiv und zu Expert*innen einzelner Exkursionsfragen?

CD: Genau. Der Tourguide ist in dem Fall „nur“ zur Unterstützung dabei. Aber eigentlich werden die Schüler*innen selbst aktiv und so zum Guide. Die Schüler*innen werden in der Vorbereitung in Kleingruppen eingeteilt und beschäftigen sich darin mit einzelnen Themenkomplexen der Geschichte des Lernortes. In dieser Phase werden sie zu Expert*innen ihres jeweiligen Themas und geben dieses Wissen dann am Tag des Gedenkstättenbesuchs an ihre Mitschüler*innen weiter.

MS: Als Lehrer*in würde mich an dieser Stelle interessieren, für welche Altersstufe sich die „aktivierten Rundgänge“ eignen und wie viel Vorbereitungsaufwand sie beinhalten. Erhalten die Lehrer*innen das Material von der Gedenkstätte oder müssen sie dieses selbst erstellen?

CD: In der Gedenkstätte KZ Osthofen bekommt man das Material zur Vorbereitung gestellt. Darin sind alle wichtigen Quellen und Arbeitsaufträge enthalten, die man für die „aktivierten Rundgänge“ braucht. Die Arbeit mit den Materialmappen sollte nicht zu knapp bemessen sein. Hier gilt es, die eigene Lerngruppe einzuschätzen: Wie viel Zeit brauchen die Schüler*innen, um in Kleingruppen ihre Vorträge vorzubereiten? Angedacht sind hier 3 bis 4 Schulstunden. Das ist gerade im Fach Geschichte eine Menge, doch bei der Auswahl der Themen und Quellen wurde darauf geachtet, dass die Schüler*innen eben nicht nur konkret etwas zum KZ Osthofen lernen, sondern zur gesamten Zeit des Nationalsozialismus. Es lohnt sich also, diese Zeit darein zu investieren.

Angedacht ist das Material eigentlich für 10. Klassen, doch im Rahmen meiner Promotion habe ich das Material auch mit 9. Klassen einer Integrierten Gesamtschule, also sehr heterogenen Lerngruppen getestet und auch hier konnten gute Lernerfolge erzielt werden. Auch Oberstufenschüler*innen haben bereits erfolgreich mit dem Material gearbeitet. Selbstverständlich unterscheiden sich die gehaltenen Vorträge in der Komplexität, doch sowohl die 9. Klassen als auch die Oberstufenschüler*innen lernten mithilfe der „aktivierten Rundgänge“ signifikant dazu.

MS: Wie hat die Umsetzung der „aktivierten Rundgänge“ dann in der Praxis funktioniert? Welche Veränderungen hast du bei Schüler*innen, aber vielleicht auch bei Lehrer*innen im Vergleich zu den klassischen Führungen bemerkt?

CD: In der Praxis haben die „aktivierten Rundgänge“ sehr gut funktioniert. Die Schüler*innen haben sich sehr schnell auf diese Art der Führung eingelassen und ihre Vorträge gehalten. Ich würde es nicht unbedingt Veränderungen nennen, die ich in der Praxis erkennen konnte, sondern eher die Beobachtung und die Rückmeldung, dass die Arbeit mit Originalquellen etwas sehr Besonderes ist, das Schüler*innen durchaus Spaß macht. Außerdem war es toll zu sehen, wie die Lerngruppen miteinander gearbeitet haben: Schüler*innen haben selbständig Arbeitsaufträge untereinander verteilt und dabei auch darauf geachtet, wer in welchem Bereich Stärken oder Schwächen hat. Das sind Beobachtungen, die man bei einer klassischen Führung natürlich nicht machen kann.

Auch für die Lehrer*innen boten sich so ganz neue Einblicke in ihre Lerngruppen. Ich erhielt immer wieder die Rückmeldung, dass sie überrascht waren, wie gut das selbstregulierte Lernen funktioniert hat: Eine Feststellung, die sowohl von den Lehrkräften als auch von den Schüler*innen geäußert wurde. Das war für mich besonders spannend zu sehen: Dass Schüler*innen, die sich das selbst gar nicht zugetraut hätten, so gute und vor allem inhaltlich richtige Vorträge halten konnten und auch auf Rückfragen ihrer Mitschüler*innen reagieren konnten.

MS: Fördern „aktivierte Rundgänge“ demnach nicht nur Fachwissen, sondern auch die Zusammenarbeit und die Organisation in einer Lerngruppe? Zusätzlich muss eine Gruppe ihre Arbeitsergebnisse auch zu einem bestimmten Termin (der Exkursion) fertigstellen und präsentieren. Hattest du den Eindruck, dass die Lehrer*innen ihren Schüler*innen so etwas vorher nicht zugetraut haben?

CD: Ich würde nicht sagen, dass sie ihren Schüler*innen das gar nicht zugetraut hätten, aber viele waren doch über die Qualität der Endergebnisse überrascht, im positiven Sinn!

Ja, die „aktivierten Rundgänge“ sollen viel mehr tun, als Fachwissen zu fördern. Schüler*innen erhalten hier die Möglichkeit zum selbstregulierten Lernen, was heißt, dass sie selbst Arbeitsaufträge in der Gruppe aufteilen müssen. Und jeder ist dafür verantwortlich, dass am Ende (am Tag des Gedenkstättenbesuchs) das Ergebnis vorgestellt werden kann. Man überträgt den Schüler*innen also eine große Verantwortung. Aber, was eben auch ganz wichtig ist, ist, dass die Schüler*innen generell im Umgang mit unterschiedlichen Quellen geschult werden. Eine Kompetenz, die sie immer wieder anwenden können, nicht nur im Geschichtsunterricht.

MS: Das bedeutet, dass sich das Konzept der „aktivierten Rundgänge“ auch auf Exkursionen in anderen Bereichen und Fächern übertragen lässt?

CD: Die Idee der „aktivierten Rundgänge“ auf jeden Fall. Die Gedenkstätte KZ Hinzert hat beispielsweise diese Idee bereits aufgegriffen und die „aktivierten Rundgänge“ in ihr Angebot aufgenommen. Es geht um die Gestaltung einer Lernumgebung, die selbstreguliertes Lernen mit Originalquellen ermöglicht. Das ist eigentlich bei fast allen Exkursionen umzusetzen.

MS: Was waren denn die wichtigsten Ergebnisse aus deiner Doktorarbeit für die Praxis? Was würdest du Lehrer*innen gerne mitteilen?

CD: Die wichtigste Erkenntnis ist auf jeden Fall, dass selbstreguliertes Lernen tiefgreifendes Lernen fördern kann. Ich möchte Lehrer*innen gerne dazu ermutigen, selbstreguliertes Lernen immer wieder zu ermöglichen. Ich weiß, dass der enge Zeitplan und die Vorgaben des Lehrplans dies manchmal schwierig machen. Doch die Ergebnisse meiner Doktorarbeit zeigen, dass sich diese Arbeit lohnen kann. Selbstregulation und intrinsische Motivation hängen zusammen. Und wenn man sieht, dass Schüler*innen, die intrinsisch motivierter sind, auch eher tiefgreifend lernen, dann ist das doch viel wert.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse meiner Doktorarbeit war aber eben auch, dass inhaltliches und sprachliches Lernen viel häufiger miteinander verknüpft werden sollten. Und das funktioniert im Fach Geschichte ganz besonders gut, wenn man Schüler*innen mit Quellen arbeiten lässt. In den Schulbüchern sind diese aber leider immer sehr stark gekürzt. Ich würde Lehrer*innen also gerne dazu ermutigen, häufiger mit Originalquellen zu arbeiten. Wenn man hier einen multiperspektivischen Zugang wählt, können Schüler*innen die vorhin angesprochenen Kompetenzen besonders gut ausbauen und so weit über das Fach Geschichte und das konkrete Thema hinaus lernen.

MS: Du bist heute nach abgeschlossener Promotion Leiterin des Haus des Erinnerns –für Demokratie und Akzeptanz in Mainz. Wie lässt du dort deine Erfahrungen aus dem Promotionsprojekt einfließen?

CD: Im Haus des Erinnerns arbeiten wir fortwährend an unseren Bildungsangeboten. Hier kann ich natürlich meine Erkenntnisse aus der Promotion bei der Konzeption pädagogischer Angebote einfließen lassen, sei es bei Workshops oder Stadtrundgängen. So bieten wir im Haus des Erinnerns auch eine Erweiterung eines Stadtrundgangs um einen „aktivierten Rundgang“ an. So können Schüler*innen beim Stadtrundgang „Auf den Spuren der Demokratie durch Mainz“ selbst Kurzvorträge zu verschiedenen bedeutenden Persönlichkeiten halten. Hier setzen wir also sehr konkret die Erfahrungen aus meinem Promotionsprojekt um.

Dr. Cornelia Dold hat nach Ihrem Lehramtsstudium an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz promoviert und leitet heute das Haus des Erinnerns – für Demokratie und Akzeptanz in Mainz (https://www.haus-des-erinnerns-mainz.de/). Ihre Doktorarbeit zum Thema selbstregulierten Lernens in Gedenkstätten ist im letzten Jahr als Buch erschienen:

Dold, Cornelia: Außerschulische Lernorte neu entdeckt. Wie selbstreguliertes Lernen in Gedenkstätten tiefgreifende Lernprozesse fördert. Wochenschau-Verlag. Frankfurt am Main 2020.

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