Bevor man etwas Neues lernt, ist es hilfreich sich zu fragen, was man eigentlich schon über das Thema weiß. Man aktiviert sein Vorwissen. Doch was passiert, wenn das Vorwissen falsch oder unpassend ist?
[Anmerkung zum Text: Ich rede im Text von „Lernern“ und „Lehrern“, gemeint sind damit grundsätzlich alle Geschlechter. Außerdem beziehen sich diese Bezeichnungen nicht nur auf Personen in der Schule, sondern beispielsweise auch auf die Ausbildung und auf alle weiteren Lernumfelder.]
Was fällt Ihnen beim Wort „Baum“ ein? Vielleicht verschiedene Baumarten, Teile eines Baumes oder seine Früchte? Denken Sie an einen Wald, einen Lieblingsbaum oder ihr Baumhaus aus Kindertagen? Schon allein das Wort „Baum“ aktiviert vermutlich Gefühle, Erinnerungen aber eben auch Wissen. Wenn Sie nun etwas Neues über das Thema „Baum“ lernen wollen, ist es hilfreich, wenn Sie auf Ihr bestehendes Wissen zugreifen – Sie aktivieren also Ihr Vorwissen. Wenn Sie jedoch etwas über Tulpen lernen wollen, wäre dieses Vorwissen nicht passend. Sie würden somit Ihren Lernprozess behindern, wenn Sie die Grenzen der Übertragbarkeit nicht erkennen.
Vorwissen bezieht sich also auf Wissensinhalte, die bereits im Langzeitgedächtnis zu einem bestimmten Thema zur Verfügung stehen. Zu Inhalten gehören dabei nicht nur Faktenwissen, sondern auch Informationen wie und wann das Wissen angewendet wird und wie verschiedene Wissensinhalte miteinander verbunden sind. Diese Inhalte können aktiviert und genutzt werden, wenn neues Wissen hinzukommt. Denn neues Wissen wird tiefer verarbeitet und bleibt länger erhalten, wenn es mit bestehenden Wissen verknüpft werden kann. Dieser Zusammenhang zeigte sich auch in wissenschaftlichen Untersuchungen. Forscher (u. a. Hattie) haben herausgefunden, dass Vorwissen neben der Intelligenz ein wichtiger Faktor für gute Lernleistung ist.
Doch woher wissen Lehrer was Lerner bereits wissen? Das Vorwissen kann beispielsweise durch kleine Tests und Quizze abgefragt werden oder Lerner schätzen ihr Wissen selbst ein. Darüber hinaus kann das Vorwissen der Lerner durch Fragenstellen, Brainstorming, eigene Erfahrungsberichte oder auch Mindmaps aktiviert werden, denn nicht immer sind sich Lerner ihres Vorwissens bewusst und greifen allein darauf zu. Um eine Verbindung zwischen aktuellem und bisherigem Lernstoff herzustellen, müssen Lerner immer wieder explizit darauf hingewiesen werden. Auch Analogien und Beispiele aus dem Alltag können das Vorwissen aktivieren, genauso wie Begründungen für Sachverhalte, mit denen Lerner ihre Antworten untermauern.
Wenn das aktivierte Vorwissen nun passend, vollständig und fehlerfrei ist, wirkt sich dieses positiv auf den Lernprozess aus. Problematisch wird es hingegen, wenn das aktivierte Vorwissen nicht zum Thema passt, unzureichend oder gar falsch ist. Denn Vorwissen wirkt dabei wie ein Filter für das neue Wissen und beeinflusst so, welche Informationen aufgenommen und auf welche Art diese verarbeitet werden.
Wissenslücken oder nicht ausreichendes Vorwissen können identifiziert und behoben werden. Passt jedoch das Vorwissen nicht genau zum Thema, wird es schon etwas schwieriger. Hier kann es helfen, Lernern zu verdeutlichen wann bestimmte Analogien und Beispiele ihre Grenzen haben und somit nicht mehr passen. Außerdem ist es für Lerner wichtig zu erfahren, unter welchen Bedingungen neues Wissen anwendbar ist. So lässt sich Wissen beispielsweise nicht automatisch von einer Disziplin auf die andere übertragen. (Beispiel: Das Wissen über das Schreiben einer Gedichtinterpretation lässt sich nicht auf das Schreiben eines Forschungsprotokolls übertragen.) Nicht zuletzt können Eselsbrücken und Daumenregeln helfen, Stolperfallen zu vermeiden und das richtige Wissen zu aktivieren.
Am schwierigsten wird es jedoch, wenn falsches Vorwissen aktiviert ist. Dieses kann die Aufnahme neuen Wissens und somit den gesamten Lernprozess behindern. Besonders hartnäckig ist das falsche Vorwissen in Form von Fehlkonzepten, z.B. bei naturwissenschaftlichen Themen. Es kann einige Zeit dauern, bis diese Fehlkonzepte korrigiert sind, da diese sich wirklich hartnäckig halten können und sich nicht einfach durch neue Informationen ersetzen lassen. Lerner profitieren davon, wenn sie ihre eigenen Hypothesen und Annahmen in Experimenten testen können und ihre Schlussfolgerungen begründen müssen. Hilfreich ist es außerdem, mehr als eine Möglichkeit anzubieten, um Fehlkonzepte zu korrigieren.
Das Vorwissen zu aktivieren, kann den Lernprozess also unterstützen, wenn es passend, vollständig und frei von Fehlern ist, anderenfalls behindert aktiviertes Vorwissen das Lernen.
Mein Kommentar:
Bei einem Vortrag kann es schnell passieren, dass man nach den ersten paar Stichworten schon denkt: „Ach ja, kenn ich. Hmm, weiß ich schon. Alles klar!“ Dann ist das Vorwissen aktiviert. Das führt manchmal aber auch dazu, dass man weniger aufmerksam ist und gar nicht merkt, dass man eben doch noch nicht alles über das Thema wusste oder Sachverhalte vielleicht sogar falsch abgespeichert hatte.
Aus meiner Perspektive (als Lehrer) ist es mir besonders wichtig, dass man nicht davon ausgeht, dass Lerner ohne Vorwissen zu einem kommen. Gerade auf dem Gebiet der Psychologie scheint jeder schon alles zu wissen und hat im Alltag schon viele Beispiele wahrgenommen. Es ist schwer, sich als Lehrer zu überlegen, was Lerner wissen könnten – es gibt zu viele Möglichkeiten. Also hilft nur eines: Man muss die Lerner fragen. Dadurch fühlen sich nicht nur die Lerner mit ihrem Wissen wertgeschätzt, sondern man lernt auch als Lehrer noch die eine oder andere Verbindung zum Thema, die man gar nicht im Blick hatte. So kann man an die Lebenswelt der Lerner anknüpfen und doziert nicht stundenlang am „halbgaren“ Vorwissen vorbei, weil die Lerner sich denken „Ach ja, kenn ich…“.
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Quellen:
Ambrose, S. A. (2010). How learning works: Seven research-based principles for smart teaching. The Jossey-Bass higher and adult education series. San Francisco, CA: Jossey-Bass.
Hattie, J., Beywl, W. & Zierer, K. (2013). Lernen sichtbar machen (überarb. deutschsprachige Ausg.). Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
Krause, U.-M. & Stark, R. (2006). Vorwissen aktivieren. In H. Mandl (Hrsg.), Handbuch Lernstrategien (S. 38-49). Göttingen: Hogrefe.