Empowerment – warum Lehrer Kenntnisse über Forschung brauchen

Im Sommer habe ich mich mit Frau Prof. Dr. Margarete Imhof zu einem Interview in ihrem Büro in Mainz getroffen. Wir sprachen dabei nicht nur über ihr neues Buch „Psychologie in den Bildungswissenschaften Eine Einführung in psychologische Studien für Lehramtsstudierende“, sondern auch über die Frage, warum Lehrer1 und andere Akteure in der Bildung, sich mit Forschung beschäftigen sollten.

1 In diesem Interview wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

Myriam Schlag [MS]: Die Begründung, warum sich Lehramtsstudent*innen mit Forschung auseinandersetzen sollten, liegt in den „Standards für die Lehrerbildung“. Darin steht, dass Lehramtsstudent*innen am Ende ihres Studiums sowohl die Ziele und Methoden der Bildungsforschung kennen als auch Forschungsergebnisse interpretieren und anwenden können sollen. Was bedeutet das genau für Lehramtsstudent*innen, Lehrer*innen in Schulen und auch weiteren Personen, die im Bildungsbereich tätig sind?

Margarete Imhof [MI]: Das bezieht sich sowohl auf Lehrer, Schulleiter aber auch Entscheider im Bildungssystem. Diese Personen sollten ihre Entscheidungen idealerweise auch auf Basis empirischer Evidenz treffen. Natürlich werden Entscheidungen auch auf der Basis anderer Überlegungen getroffen, aber ein Teil sollte auf empirischer Evidenz aufbauen. Wenn wir beispielsweise sagen, dass wir das Sitzenbleiben abschaffen, dann kann man sich dazu entsprechende Studien ansehen. Aber um diese Studien zu verstehen, ist es wichtig, dass die Personen, die diese Publikationen lesen, verstehen, wo man die betreffenden Informationen findet. Das ist eigentlich in einem gängigen Lehramtsstudium bislang nicht Gegenstand gewesen.

MS: Weitere Personengruppen der Bildung wie Ausbilder, Personalentwickler etc. betrifft diese Forderung aber auch, oder?

MI: Wir (ich und meine Co-Autoren) haben uns auf den Weg gemacht, mit dem Buch und der Lehrveranstaltung „Forschungswerkstatt für Lehramtsstudenten“, nicht nur in die Schulen, sondern generell in die Gesellschaft so etwas wie Wissenschaftsorientierung zu bringen. In der Corona-Krise ist deutlich geworden, dass die Menschen schlecht mit Ambiguität umgehen können oder damit, dass niemand zu hundert Prozent weiß, was hilft und was gut ist.

MS: Es gibt eine Menge Themen aus dem Schulalltag, zu denen wissenschaftliche Forschung etwas beitragen kann. Warum ist es jedoch für Lehrer besser, Forschungsergebnisse heranzuziehen, als sich auf Tipps von Kollegen oder die eigenen Erfahrungen zu berufen?

MI: Der Umgang mit Forschung ist aufwendiger und man braucht vermutlich länger, bis man ein Problem gelöst hat. Es ist weniger eindeutig, als wenn man einen Kollegen fragt. Als Wissenschaftlerin gehe ich davon aus, dass Forscher jedoch mehr sehen und sich ihnen andere Aspekte der Realität erschließen als den Lehrern im Alltag. In Lehrerkollegien gibt es auch ein gewisses Group-Think. Das bedeutet, man bestätigt sich gegenseitig in seiner Meinung, Haltung und seinen Ideen. Ein neuer Gedanke hat es dann auch schon mal schwer. In der Schule hat man natürlich auch eine wenig systematische Sicht der Dinge. Man guckt eben auf das, was einem ins Auge springt. Der Lehrer hat ja nie den vollständigen Datensatz. Da können Wissenschaftler natürlich mehr beitragen und sehr viel vollständigere Bilder zeigen.

MS: Es kommt das Problem hinzu, dass nur weil es ein Forschungsergebnis gibt, das auf viele Menschen zutrifft, es eben nicht genau auf den Schüler zutreffen muss, der vor einem sitzt.

MI: Die Forschung ist eben nichts, was man eins zu eins übertragen kann. Forschungsorientierung heißt aber auch nicht: Was steht in dem Artikel x und was sagt der mir genau? An welcher Schraube soll ich drehen? Forschungsorientierung heißt auch, dass ich mir bei Problemen eine bestimmte Vorgehensweise antrainiere, dass ich in Modellen denke und mir Einflussfaktoren ansehe. Es heißt auch, dass ich mehr als eine Erklärung für eine Situation habe, dass ich mehr als einen Ansatz für die Problemlösung suche. Das wiederum beinhaltet, dass ich zunächst beobachte und kleinteilig Entwicklungen betrachte. Es bedeutet nicht, dass ich eine Antwort auf meine Frage habe, sondern dass ich komplex denken kann. So kann ich dann Vorgehensweisen von Forschern benutzen, um für mich zu klären, was mit einem Schüler los ist.

MS: Das beschriebene Vorgehen klingt aufwendig und würde doch viel Zeit in Anspruch nehmen, oder nicht? Wie muss man sich das vorstellen, wenn Lehrer forschungsorientiert im Alltag arbeiten?

MI: Ich weiß gar nicht, ob der Begriff „zusätzlicher Aufwand“ richtig ist. Das ist einfach die Aufgabe des Lehrers. Er wird dafür bezahlt, dass er sich um seine Schüler kümmert. Meine Vorhersage – auch in Bezug auf die Digitalisierung – ist, dass beispielsweise das Material, die Arbeitsblätter, die Erklärungen und die Erklärvideos zunehmend aus dem Unterricht ausgelagert werden. Ich bemerke das Gleiche an der Universität. Die Vorlesung ist auf Band und wiederholt sich inhaltlich im nächsten Semester. Da lässt man das Band wieder abspielen. Aber dann fängt die Hauptarbeit auch erst an. Dann geht es darum, mit den Lernern ins Gespräch und in die Diskussion zu kommen und festzustellen, wo sie Unterstützung brauchen. Das könnte sich in der Schule so ähnlich gestalten, da die Materialien auch immer besser werden. Dann hat man auch den Freiraum, um zu schauen, was die Schüler brauchen.

MS: Es ist also weniger ein zusätzlicher Aufwand, als eine andere Haltung gegenüber dem, was vor den Augen der Lehrer passiert. Ist es eher eine andere Perspektive auf die Schüler und den eigenen Unterricht?

MI: Es ist eine Frage des Selbstverständnisses. Wenn man Lehrer bittet: „Beschreiben Sie mal den Kern Ihrer beruflichen Aufgabe“, könnten sie antworten: „Ja, meine Aufgabe ist es den Kindern Englisch oder Mathe beizubringen.“ Oder sie könnten auch anders antworten und das Ziel haben, ihre Schüler im Lernen zu fördern am Beispiel von Englisch und Mathe. Die Frage ist somit: Was ist hier meine Aufgabe? Es ist eine Frage der Perspektive und des Selbstverständnisses, aber auch der Handlungsmöglichkeiten. Wenn ich in meiner Ausbildung nur gelernt habe, verschiedene Übungen zu bewerten, mit denen man eine bestimmte Grammatikstelle gut erklären kann, dann kann ich genau das und finde dazu die beste Übung. Die Schüler können diese Grammatikstelle dann auch (fast) alle, aber ein paar Schüler habe ich verloren, weil sie einen anderen Weg gebraucht hätten, weil sie nicht genug Vorwissen hatten, oder weil sie schon viel weiter waren und ich habe es nicht bemerkt.

MS: Sprechen wir noch über das neue Buch. Welchen Beitrag zum Thema „Lehramt und Forschung“ liefert es genau? Was beinhaltet es, was auch für Lehrer im Schulalltag interessant ist?

MI: Unser Hauptanliegen war, die Grundprinzipien von quantitativer psychologischer Forschung so am Beispiel darzustellen, dass die ganze Methodenlehre konkret und anschaulich wird. Wenn man in der Psychologie beispielsweise von einem Experiment spricht, könnte man denken: „Oh, da wird was mit Menschen in einem Labor gemacht.“ Da ist man ganz schnell bei Fantasien und schlimmen Vorstellungen, was da wohl mit Menschen gemacht wird. Deshalb erläutern wir an Beispielen, was wir genau meinen, wenn wir von einem Experiment sprechen. Dabei geben wir den Lesern auch Werkzeuge und anschauliche Beispiele an die Hand, wie sie solche Experimente bewerten können. Es gibt schließlich nicht DAS eine Experiment, was uns zur Lösung aller Probleme führt. Experimente haben immer Stärken und Punkte, bei denen am Ende noch Fragezeichen bleiben. Es gibt ja Menschen, die Forschungsarbeiten lesen und denen sich die Texte nicht erschließen, weil es natürlich auch eine ein bisschen schwerfällige Textsorte ist. Jedoch haben wir die Erfahrung gemacht, wenn man Studenten hilft, dann können sie die Forschungsarbeiten durchschauen und bewerten. Es ist wichtig, dass Menschen eigenständig bewerten können und dass die Bewertung differenzierter ist, als zu sagen: „Also das war jetzt aber ein komischer Text. Das glaube ich nicht.“ Das wäre natürlich auch eine Bewertung, die aber nicht wirklich differenziert ist. Diese Menschen können nicht mit Argumenten nachlegen, warum ihnen der Text komisch vorkommt oder wozu sie Nachfragen haben. Es ist eher ein Unbehagen, ohne sagen zu können, warum einem das nicht passt. Ich halte das wirklich für ein geistiges Empowerment, wenn Menschen mehr sagen können als „Hm, komisch, gefällt mir nicht, glaube ich nicht.“ Sondern wenn sie wirklich sagen können, warum sie skeptisch sind, was sie an der Studie gut oder fragwürdig finden und was sie nach der Lektüre dieser Studie gerne noch besprechen würden. Ich halte das für ein Empowerment. Das entspricht dem Diktum, dass man sich seines eigenen Verstandes bedienen können soll. Und das ist einfach per se schon ein Wert. Je mehr man in der Lage ist, Entscheidungen aufgrund von Nachdenken zu treffen, desto eher kann man sich vielleicht auch gegen Manipulationsversuche von Werbung oder anderen Einflüssen wappnen. Menschen zu helfen, dass sie die Stellen erkennen, die relevant sind, um sich eine Bewertung der Situation eigenständig erarbeiten zu können, das finde ich wirklich wichtig und das hat für mich mit Bildung zu tun. Gleichzeitig hat es auch etwas damit zu tun, dass wir erfolgreich eine Informations- und Wissensgesellschaft bauen. Ansonsten haben wir eine Gesellschaft, die im Internet irgendwelche Verschwörungsnarrative liest und „Juhu“ schreit. Und vor so einer Gesellschaft hätte ich Angst.

MS: Sie haben ja schon einige Studenten in der Lehrveranstaltung „Forschungswerkstatt“ durch diese Bildung durchgelotst. Was waren dabei die größten Stolpersteine für die Studenten, welche zum ersten Mal psychologische Studien zum Thema Bildung lesen?

MI: Mir ist zuerst eine gewisse Verständnislosigkeit gegenüber diesen Texten aufgefallen. Die Studenten erwarten, dass in den Texten steht, was sie tun sollen. Wir hatten in diesem Semester gerade einen Studenten im Seminar, der meinte, Lehrveranstaltung wäre ja schön, aber warum müssen wir forschen? Im Sinne von: „Meine Freundin hat das Referendariat schon gemacht und die hat gesagt, so etwas braucht man nie.“ Dahinter steckt die Erwartung, man bekommt jetzt gesagt, wie das Unterrichten geht. Wenn ich dann eineinhalb Jahre Referendariat gemacht habe, dann habe ich so einen Überblick über das Lehrerdasein, dann weiß ich schon genau, was ich brauche und was nicht. Ein Stolperstein ist die Erwartung von Handlungsanweisung und einer klaren Richtlinie. Aber das bekommt man so schnell nicht, sondern dafür muss man erst mal noch was tun.
Ein weiterer Stolperstein ist, in Konzepten zu denken. Im Seminar darüber hinaus zu kommen, dass Motivation eben nicht das ist, was ich denke und dass ich Motivation auch nicht sehen kann. Student: „Aber ich sehe doch, dass der Schüler motiviert ist.“ Ich erwidere: „Nein, das, was Sie sehen, ist etwas anderes. Was sehen sie genau?“
Doch auch das Denken in Wahrscheinlichkeiten ist schwierig. Nach dem Motto: Aber wenn der Kollege doch sagt, so geht’s, dann muss das doch richtig sein. Dass der Kollege jedoch Dinge empfiehlt, die für ihn funktionieren, und dass diese aber nicht für alle funktionieren müssen, fällt dann erst später auf.
Nicht zuletzt sind natürlich auch Sachen schwierig, die naheliegend und anschaulich sind. Wenn ein Schüler in der Klasse nicht macht, was er soll und der Lehrer weist ihn zurecht und der Schüler setzt sich daraufhin hin und macht, was er soll oder ist zu mindestens ruhig, dann hat man doch gesehen, dass das klappt. Das war jetzt ein Beispiel aus dem Disziplinieren, aber es gibt ja noch viele andere. Die hohe Macht der Anschauung, das ist ganz klar eine Hürde. Denn damit setzen sich die Lehrertraditionen fort. Die Erfahrungen, die Studenten in den Schulpraktika machen – also sowohl was sie gesehen haben als auch was sie von praktikumsbetreuenden Lehrkräften zu hören bekommen – das können Hürden sein, die es schwer machen, Neues zu etablieren.

MS: Die Lehrer als Akademiker sollen Forschungsmethoden erlernen. Aber man könnte ja auch fragen, warum Wissenschaftler so komplizierte Artikel und Bücher schreiben. Ist es nicht auch auf Seiten der Wissenschaft notwendig, Wissenschaftskommunikation zu betreiben? Sollten nicht beide Gruppen – Lehrer und Wissenschaftler – einen Weg zueinander finden?

MI: Ja, das stimmt. Auch Wissenschaftler sollten sich die Aufgabe stellen, so zu schreiben, dass wir in den Dialog mit dem „Endverbraucher“ kommen. Das ist nicht jedem gegeben. Ich habe das immer für einen eigenen Beruf gehalten – Wissenschaftsübersetzer. Das jemand das gut kann ist eine besondere Expertise und Kompetenz – Wissenschaft so runterzubrechen, dass es der Anwender versteht, es gleichzeitig noch wissenschaftlich ist und nicht banal wird. Das ist was Eigenes. Dazu werden wir als Wissenschaftler nicht ausgebildet. Dafür bekommt man auch keine Lorbeeren. Also um Professor zu werden, können wir nicht sagen, dass wir ganz viel Erfolg in einer Lehrerzeitschrift haben. Danach werden Professoren nicht ausgesucht. Wenn man dafür eine Ader hat, dann ist das eine Sache, aber im Großen und Ganzen muss man sich aktiv drum kümmern. Das sollte man auch tun. Die Frage ist natürlich, in welchem Medium man das tut – am besten in Kooperation mit Lehrern und anderen Akteuren in der Bildungswelt.

Das Buch Psychologische Forschungsmethoden in den Bildungswissenschaften von Margarete Imhof und Henrik Bellhäuser erscheint 2021 beim Hogrefe Verlag.

Margarete Imhof ist Professorin für Psychologie in den Bildungswissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie forscht zu den Themen Zuhören und Zuhörförderung sowie Lehrerprofessionalisierung. Vor ihrer akademischen Karriere war Margarete Imhof als Gymnasiallehrerin für Englisch und Psychologie tätig.

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