Bezugsnormen und ihre Auswirkungen auf die Lerner

Sie erhalten 42 Punkte! Freuen Sie sich? Sind sie damit zufrieden? Ach, Sie wissen gar nicht, ob das viel oder wenig ist? Sie wissen auch nicht, wie viele andere bekommen haben? Ist eben alles eine Frage der Bezugsnorm.

 

[Anmerkung zum Text: Ich rede im Text von „Lernern“ und „Lehrern“, gemeint sind damit grundsätzlich alle Geschlechter. Außerdem beziehen sich diese Bezeichnungen nicht nur auf Personen in der Schule, sondern beispielsweise auch auf die Ausbildung und auf alle weiteren Lernumfelder.]

Was sind Bezugsnormen?

„Im Test habe ich 35 Punkte erreicht.“ Ist das jetzt gut oder schlecht? Ohne einen Bezugsrahmen lässt sich diese Aussage nicht einordnen. Weitere Fragen drängen sich auf: „Wie viele Punkte konnte man denn in dem Test erreichen?“, „Wie viel Punkte hattest du in diesem Test das letzte Mal?“ oder „Wie haben die anderen abgeschnitten, die mit dir den Test geschrieben haben?“ Die Bezugsnorm liefert genau diese Bezugsrahmen, um die Leistungen von Lernern einzuordnen, und hängt mit den Themen Motivation und Feedback zusammen.

3 Bezugsnormen und ihre Auswirkungen

Die Leistung von Lernern kann anhand dreier Bezugsnormen eingeordnet werden:

  • Soziale Bezugsnorm: Die Leistung des Lerners wird mit der durchschnittlichen Leistung seiner Lerngruppe verglichen. Damit kann eine Rangordnung der Leistungen in der Lerngruppe erstellt werden: Wer hat am besten abgeschnitten? Wer ist zweiter? Usw.

  • Individuelle Bezugsnorm: Die Leistung des Lerners wird mit seinen bisherigen Leistungen (in ähnlichen Tests) verglichen. Somit können beispielsweise Lernkurven eines Lerners über das Schuljahr erstellt werden.

  • Sachliche bzw. kriteriale Bezugsnorm: Die Leistung des Lerners wird mit einem begründeten Kriterium oder Mindestwert abgeglichen. Dabei sollten die Kriterien und Anforderungen für die Lerner auch offengelegt werden.

Je nach eingesetzter Bezugsnorm können die Leistungen des Lerners in einem ganz anderen Licht erscheinen. Doch jede Bezugsnorm hat auch ihre blinden Flecken:

  • Die soziale Bezugsnorm verschleiert das allgemeine Leistungsniveau der Lerngruppe. Der gleiche Lerner kann in einer Lerngruppe mit schwachen Leistungsniveau positive Rückmeldungen erhalten, in einer anderen Lerngruppe mit starkem Leistungsniveau jedoch negative. Der Lerner erfährt nichts über seine persönliche Leistungsentwicklung.

  • Die individuelle Bezugsnorm informiert den Lerner nicht über die Leistungen der Lerngruppe oder allgemeiner Kriterien. Anhand der individuellen Bezugsnorm können keine Selektionsprozesse vorgenommen werden.

  • Die sachliche bzw. kriteriale Bezugsnorm sagt nichts über persönliche Entwicklungen aus oder ob ein Kriterium für die Lerngruppe leicht oder schwer zu erreichen war. Hinzu kommt, dass viele im Schulalltag eingesetzte Tests nicht vorher erprobt werden können. Daher müssen im Vorfeld gesetzte Kriterien später angepasst werden.

Besonders für Lerner mit schwächeren Leistungen ist die soziale Bezugsnorm nicht motivationsförderlich. Im Vergleich mit leistungsstärkeren Lernern in der Lerngruppe erhalten sie meist kontinuierlich schlechte Bewertungen. Unter allen Lernern wird mithilfe der sozialen Bezugsnorm eher eine Konkurrenzhaltung gefördert. Oft geht es den Lernern dann darum, kurzfristig gute Leistungen zu erbringen. Ein langfristiges, tiefes Verständnis von Lerninhalten wird damit nicht gefördert.

Ein positiverer Effekt zeigte sich in der pädagogisch-psychologischen Forschung bei der individuellen Bezugsnorm. Diese führte bei Lernern zu weniger Angst vor Misserfolg, weniger Prüfungsangst, realistischerer Zielsetzung, höherer Verbesserungsmotivation, höherem Fähigkeitsselbstkonzept und besserer Mitarbeit im Unterricht. Darüber hinaus setzten Lerner häufiger Lernstrategien ein, die zu einem tieferen Verständnis des Lernstoffs führen.

Tipps zum Umgang mit Bezugsnormen

  • Lehrer sollten die verschiedenen Bezugsnormen und ihre Vor- und Nachteile kennen.

  • Lehrer sollten bei ihren Rückmeldungen (mündlich und schriftlich) verschiedene Bezugsnormen einsetzen. Zusammen ergeben die verschiedenen Bezugsnormen dann ein umfassenderes Leistungsbild.

  • Lehrer sollten ihre Lerner über verschiedene Bezugsnormen und deren Bedeutungen informieren.

  • Lehrer sollten Phasen des Lernens von Phasen des Überprüfens abgrenzen. In Phasen des Überprüfens verzichten sie auf soziale Vergleiche zwischen den Lernern.

  • Lehrer sollten Lernern deren Lernfortschritte mithilfe von Arbeitsproben, Visualisierungen (z.B. Diagrammen), Lerntagebüchern oder Gesprächen verdeutlichen.

Mein Kommentar:
Bezugsnormen sind ein Balanceakt. Lerner sollen zum einen nicht demotiviert werden, möchten sich zum anderen aber auch mit anderen Lernern vergleichen. Meist werden Rückmeldungen in Form von Noten gegeben. Auch dabei sollten sich Lehrer im Klaren sein, nach welchen Bezugsnormen diese zustande kommen. Fehlende Bezugsnormen können dann zusätzlich durch einen schriftlichen Kommentar ergänzt werden. Allerdings ist es gar nicht so einfach, Rückmeldungen nach bestimmten Bezugsnormen zu formulieren, insbesondere in mündlicher Form.

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Quellen

Rheinberg, F. & Fries, S. (2018). Bezugsnormorientierung. In D. H. Rost, J. R. Sparfeldt & S. Buch (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie (5., überarbeitete und erweiterte Auflage, S. 56–63). Weinheim: Beltz.

Spinath, B. (2008). Bezugsnormorientierung. In J. Zumbach (Hrsg.), Pädagogische Psychologie in Theorie und Praxis. Ein fallbasiertes Lehrbuch (S. 185–192). Göttingen: Hogrefe.

Worbach, M., Drechsel, B. & Carstensen, C. H. (Heidelberg : Springer Berlin Heidelberg, 2019). Messen und Bewerten von Lernergebnissen. In D. Urhahne, M. Dresel & F. Fischer (Hrsg.), Psychologie für den Lehrberuf (S. 493–516). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.