Wer schon mal in einer Unterrichtsstunde hospitiert hat, weiß, dass man dort viele verschiedene Aspekte beobachten kann. Besonders interessant und wichtig sind dabei vor allem die Merkmale, die nicht sofort ersichtlich sind – die Tiefenstrukturen des Unterrichts. Ein genauerer Blick lohnt sich also.
[Anmerkung zum Text: Ich rede im Text von „Lernern“ und „Lehrern“, gemeint sind damit grundsätzlich alle Geschlechter. Außerdem beziehen sich diese Bezeichnungen nicht nur auf Personen in der Schule, sondern beispielsweise auch auf die Ausbildung und auf alle weiteren Lernumfelder.]
Warum Unterricht beobachten und analysieren?
Beobachtung und Analyse von Unterricht sind nicht nur aus der Perspektive der Unterrichtsforschung interessant, sondern auch wichtige Praxiswerkzeuge. Sie können genutzt werden, um anderen Feedback zu deren Unterricht zu geben oder aber den eigenen Unterricht zu reflektieren. Reflexion wiederum ist entscheidend, wenn man seinen Unterricht verändern oder verbessern möchte, beispielsweise um neue Herausforderungen zu bewältigen.
Betrachtungsebenen von Unterricht
Unterricht ist eine komplexe Lernsituation. Die pädagogisch-psychologische Unterrichtsforschung versucht jedoch, Unterricht zu beschreiben und zu analysieren, um beispielsweise herauszufinden, welche Elemente in Lernsituationen besonders lernförderlich sind.
Es gibt verschiedene Ordnungssysteme, um Unterricht zu erforschen und zu analysieren. Eins davon sind die Betrachtungsebenen von Unterricht. Mit diesen kann man Unterricht anhand von Merkmalen beschreiben. Die Betrachtungsebenen können in Sicht- und Tiefenstrukturen unterteilt werden.
Sichtstrukturen
Die Sichtstrukturen (auch Oberflächenstrukturen genannt) beinhalten Unterrichtsmerkmale, die für alle Beobachter von Unterricht leicht zu erschließen sind. Zu den Unterrichtsmerkmalen gehören:
- Organisationsformen sind strukturelle Rahmenbedingungen (z.B. Klassenunterricht, Lerngruppen, Förderunterricht).
- Methoden des Unterrichts sind mehrere Unterrichtsstunden überdauernde Formen der Unterrichtsplanung und -organisation (z.B. Offener Unterricht, Projektarbeit, Frontalunterricht).
- Sozialformen sind die Gestaltung der Interaktion in einer Unterrichtseinheit (z.B. Gruppen-, Partner-, Einzelarbeit).
Diese drei Merkmale bilden einen Rahmen für alle Unterrichtsprozesse.
Tiefenstrukturen
Die Tiefenstrukturen sind im Vergleich zu den Sichtstrukturen für die Beobachter von Unterricht schwieriger zu erkennen. Sie beinhalten, wie sich Lerner mit den Lerninhalten auseinandersetzen und wie verschiedene Personen im Unterricht miteinander interagieren.
Die Tiefenstrukturen beinhalten das Unterrichtsmerkmal
- Lehr-Lern-Prozesse
welches sich wiederum in die folgenden drei Dimensionen unterteilen lässt, welche auch als Dimensionen der Unterrichtsqualität bekannt sind:
- Klassenführung (Classroom Management), z.B. Umgang mit Störungen
- Kognitive Aktivierung bzw. kognitive Anregung der Lerner, sich mit den Lerninhalten aktiv auseinander zusetzen
- Unterstützung durch die Lehrer, z.B. Umgang mit Fehlern, Geduld, Wertschätzung und Respekt
Die drei hier genannten Dimensionen von Kunter und Trautwein sind eine eher kompakte Systematik, um die Tiefenstrukturen zu beschreiben. In anderen Forschungsarbeiten gibt es umfangreichere Merkmalslisten der Tiefenstruktur.
Sicht- und Tiefenstrukturen
Sicht- und Tiefenstrukturen sind unabhängig voneinander. Beispielsweise kann eine Aufgabenstellung (= Tiefenstruktur) sehr unterschiedlich gestellt sein, auch wenn diese immer in der gleichen Sozialform Gruppenarbeit (= Sichtstruktur) eingesetzt wird.
Verschiedene Forschungsprojekte haben herausgefunden, dass Tiefenstrukturen Lernerfolg bei Lernern besser erklären als die Sichtstrukturen (u.a. Hattie, 2009). Das bedeutet, dass eine gute Methode allein nicht ausreicht, um die Leistungen bei Lernern zu verbessern, wenn diese nicht in guter Qualität umgesetzt wird. Qualität im Sinne der Tiefenstruktur bezieht sich dabei auf die Interaktionen und die Auseinandersetzung mit dem Lernstoff.
Mein Kommentar:
Auch wenn diese Beobachtungsebenen erst einmal sehr theoretisch erscheinen mögen und Sie selbst nicht vorhaben, Ihren Unterricht zu analysieren oder zu reflektieren, sollte Sie einen kurzen Moment darüber nachdenken. Die Forschungsergebnisse fordern dazu auf, weniger die Sichtstrukturen zu verändern, sondern mehr an den Tiefenstrukturen zu arbeiten, um die Leistungen bei den Lernern und somit auch die Qualität des Unterrichts zu erhöhen. Es geht also mehr darum, Lernern kognitiv anregende Fragen zu stellen, als eine weitere aufwendige Projektwoche zu planen.
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Quellen:
Kunter, M. & Ewald, S. (2016). Bedingungen und Effekte von Unterricht: Aktuelle Forschungsperspektiven aus der pädagogischen Psychologie. In N. McElvany, W. Bos, H. G. Holtappels, M. M. Gebauer & F. Schwabe (Hrsg.), Bedingungen und Effekte guten Unterrichts (Dortmunder Symposium der Empirischen Bildungsforschung, Band 1, S. 9–32). Münster: Waxmann.
Kunter, M. & Trautwein, U. (2013). Psychologie des Unterrichts (UTB, 3895 Standardwissen Lehramt). Paderborn: Ferdinand Schöningh.