Wie stellen sich Ihre Lerner eigentlich Wissen vor? Woher kommt unser Wissen? Ist es starr oder veränderbar? Vielleicht haben Ihre Lerner noch nie über diese Fragen nachgedacht. Doch je mehr Informationen zur Verfügung stehen, umso wichtiger wird es, diese Fragen zu klären. Wie das gehen kann, lesen Sie hier.
[Anmerkung zum Text: Ich rede im Text von „Lernern“ und „Lehrern“, gemeint sind damit grundsätzlich alle Geschlechter. Außerdem beziehen sich diese Bezeichnungen nicht nur auf Personen in der Schule, sondern beispielsweise auch auf die Ausbildung und auf alle weiteren Lernumfelder.]
Epistemische Überzeugungen sind Überzeugungen, die das Wissen und die Erkenntnis betreffen. Häufig sind sie ein blinder Fleck beim Unterrichten. Schließlich gibt es viele andere psychologische Themen, die ebenfalls fürs Lernen relevant sind, z.B. Motivation, Lernstrategien, das Gedächtnis. Warum sollte man sich nun zusätzlich auch noch mit epistemischen Überzeugungen beschäftigen? Weil epistemische Überzeugungen beeinflussen, wie Lerner arbeiten und lernen, nach Informationen suchen, diese bewerten, verstehen und anwenden. Dies sind alles wichtige Kompetenzen in einer Informationsgesellschaft.
Die Grundlage der epistemischen Überzeugungen liegt in philosophischen Fragestellungen. Doch selbst wenn Ihre Lerner noch nicht über diese (philosophischen) Fragen nachgedacht haben, bringen sie Überzeugungen zu einzelnen Themen oder Fächern mit in den Unterricht und richten ihr Lernverhalten daran aus. Wenn ein Lerner denkt, dass das Wissen in einem naturwissenschaftlichen Fach starr und unveränderlich ist, wird er vermutlich einfach die Fakten auswendig lernen. Alles was es zu wissen gibt, steht bereits im Lehrbuch. Ist ein Lerner hingegen in einem anderen Fach der Überzeugung, dass dort einfach Meinungen zu Themen ausgetauscht werden, wird er für das Fach überhaupt nicht lernen, da er seiner Überzeugung nach ja lediglich seine Meinung präsentieren muss.
Kurz zusammengefasst, beeinflussen Überzeugungen über Wissen, Fächer und Disziplinen, wie Lerner denken, schlussfolgern, begründen, bewerten und validieren. Lerner, die das Wissen eines Faches für konkret, unveränderlich und unzusammenhängend halten, gehen ihren Lernprozess dabei anders an als Lerner, die das Wissen in diesem Fach für abstrakt, sich entwickelnd, verknüpft und kontextabhängig halten.
Modell zu epistemischen Überzeugungen
Es bestehen verschiedene Modellvorstellungen über epistemische Überzeugungen, die sich über die Jahre weiterentwickelt haben. Zwei bekannte Modelle sind das Entwicklungsmodell und das Modell unabhängiger Dimensionen.
Das Entwicklungsmodell geht unter anderem auf Perry (1970) zurück, der annimmt, dass epistemische Überzeugungen im Entwicklungsprozess verschiedene Stufen durchlaufen:
- Dualismus/Absolutismus: Es gibt nur richtig oder falsch (Schwarz-weiß-Denken)
- Mutliplismus: Es gibt verschiede Meinungen und jeder hat irgendwie recht (alles ist subjektiv)
- Evaluativismus: Wissen ist relativ, kontextabhängig und ungewiss. Wissen braucht eine Begründung, die mit Theorie und Belegen verbunden ist.
Schommer (1990) betrachtet epistemische Überzeugungen hingegen als Zusammenspiel unabhängiger Dimensionen:
- Geschwindigkeit des Lernens: Lernen erfolgt schnell oder schrittweise
- Angeborene Fähigkeiten: Die Fähigkeit zu lernen ist angeboren oder veränderbar
- Struktur von Wissen: Wissen besteht aus einzelnen und simplen Fakten oder aus einem komplexen und vernetzten System.
- Gewissheit von Wissen: Wissen ist sicher oder unsicher
- Quelle des Wissens: Wissen wird von Autoritäten vermittelt oder wird aktiv selbst erschaffen.
Epistemische Überzeugungen im Unterricht
Lerner (und auch alle anderen Erwachsenen) treffen in ihrem Leben immer wieder auf Fragen, auf die es keine eindeutige Antwort zu geben scheint. Dennoch müssen sie dazu Entscheidungen treffen, beispielsweise: Wen möchte ich wählen? Welches Produkt möchte ich kaufen? Welche Maßnahmen dienen zu meiner Gesundheitsvorsorge? Um Lerner bestmöglich auf ein Leben in einer Informationsgesellschaft vorzubereiten, ist es notwendig, epistemische Überzeugungen auch in den Unterricht einzubeziehen.
- Fortgeschrittene epistemische Überzeugungen unterstützen
Unterstützen Sie ihre Lerner dabei, begründet zu argumentieren und stellen Sie den Wert von Wahrheitsfindung heraus. Dazu braucht es oft qualitativ hochwertige Beweise und Quellen. Nachdem Ihre Lerner diese gesammelt haben, müssen sie verlässliche Arbeitsprozesse kennenlernen (z.B. die Gewichtung verschiedener Informationen), um zu einer verlässlichen Schlussfolgerung zu kommen. - Arbeiten Sie mit Ihren Lernern in Richtung der Entwicklungsstufe „Evaluativismus“
Das bedeutet, dass Ihre Lerner mit Wissensquellen umgehen, konkurrierende Aussagen evaluieren sowie Theorie und Beweislage zusammenbringen können. Beispiel: Sie sagen Ihren Lernern, dass sich im Lehrbuch ein Fehler befindet. Nun steht der Lerner vor der Frage, wem er glauben soll – Ihnen oder dem Lehrbuch. Daher ist es für den Lerner wichtig, dass Sie nicht nur sagen, dass im Lehrbuch etwas falsch ist, sondern dies auch begründen (z.B. mit neuen Erkenntnissen, die nach dem Erscheinen des Buches veröffentlicht wurden.) - Emotionen nicht vergessen
Beim Thema epistemische Überzeugungen geht es nicht nur um das Denken der Lerner, auch Gefühle spielen dabei eine Rolle. Wenn Lerner etwas Neues lernen, das nicht zu ihrem bisherigen Wissen passt oder Behauptungen sich widersprechen, können sie sich unwohl fühlen, wütend oder verwirrt sein. Bsp.: „Ich dachte immer, das funktioniert so und so. Jetzt lese ich hier, es wäre ganz anders.“ Das kann im äußersten Falle sogar die Identität der Lerner beeinflussen oder angreifen. Achten Sie auf die Emotionen Ihrer Lerner und besprechen Sie diese. - Wie entsteht Wissen in einem Fach?
Bringen Sie Ihren Lernern nicht nur Wissen bei, sondern vermitteln Sie auch, wie dieses entsteht. Woher kommt das Wissen in Ihrem Fach? Welche Forschungsmethoden werden dafür angewendet? Was passiert, wenn sich Behauptungen von verschiedenen Forschern oder Experten widersprechen? Dieses methodische Wissen kann auch nicht einfach von einem Fach auf das nächste übertragen werden, sondern ist fachspezifisch. Ein Historiker nutzt andere Forschungsmethoden als ein Biologe. Machen Sie auch diese Unterschiede für die Lerner deutlich und betonen sie fachspezifische Forschungsmethoden. - Wie entwickelt sich Wissen in einem Fach?
Manchmal kommen Lerner mit der Überzeugung in den Unterricht, dass das Wissen in einem Fach sicher oder endlich ist. Natürlich verstehen Anfänger nicht immer aktuelle Forschungsprobleme im Detail, dennoch lassen sich sicher einzelne Themen finden, um zu zeigen, dass sich das Wissen in diesem Fach verändert, z.B. anhand neuer Forschungsergebnisse, -methoden oder Theorien. Zeigen Sie dabei auch auf, dass verschiedene Modelle und Ergebnisse eine Zeitlang nebeneinander stehen, es offene Fragen und Unklarheiten gibt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es sich allein um Meinungen einzelner Personen handelt und jeder „irgendwie“ Recht hat (siehe Multiplismus). - Epistemische Werte entwickeln
Zu den epistemischen Werten gehören: Aufgeschlossenheit, Skepsis, Einsicht, intellektuelle Bescheidenheit und intellektuelle Courage. Diese Werte können Sie in Ihrem Unterricht betonen. Beispiel: „Ich sehe, dass du die neuen Quellen und Erkenntnisse in deine Überlegungen einbezogen hast und deine Sichtweise verändert hast.“ „Es ist mutig von dir, einen alternativen Lösungsweg vorzuschlagen.“ Natürlich können Sie diese Werte auch bei Ihren eigenen Überlegungen gegenüber den Lernern betonen. - Verschiedene Quellen suchen und auswerten
Beziehen Sie in Ihrem Unterricht immer wieder Themen ein, bei denen sich Aussagen oder Beweise widersprechen und sich gegenüberstehen. Helfen Sie dann Ihren Lernern, damit umzugehen, und unterstützen Sie sie dabei, Quellen zu bewerten, Schlüsse zu ziehen und zu argumentieren. Bearbeiten Sie Fragen wie: Woher weiß der Autor der Quelle das und wie können wir überprüfen, ob die Aussage stimmt? - Tests und Prüfungen anpassen
Lerner tun das, was von ihnen verlangt wird. Wenn es ausreicht Fakten auswendig zu lernen, um eine Prüfung zu bestehen, dann tun Lerner meist genau das. Wenn Sie jedoch von Ihren Lernern verlangen (und es auch vorher mit ihnen üben), das neue Wissen anzuwenden, zu bewerten oder es neu zusammenzustellen (Synthese), werden sich Ihre Lerner anders auf Tests und Prüfungen vorbereiten und ein tieferes Verständnis bei komplexen Themen erlangen. Erklären Sie dabei Ihren Lernern, warum ein tieferes Verständnis des Lernstoffs notwendig ist. - Diskussionen & Reflexion
Auch Diskussionen und Reflexionen können Lerner dabei unterstützen, ihre epistemischen Überzeugungen genauer kennenzulernen oder verschiedene Standpunkte zu überdenken und zu hinterfragen.
Mein Kommentar:
Das Thema Forschung und auch die Entstehung von Wissen ist aufgrund der Corona-Pandemie gerade so präsent wie schon lange nicht mehr. Dabei treten im täglichen Leben genau die Fragen auf, die mit den epistemischen Überzeugungen zusammenhängen: Wie kann es sein, dass Forscher ihre Aussagen nach einer Zeit ändern? Wie kann es sein, dass sich Experten widersprechen? Wem kann ich glauben? Wie entsteht das Wissen über z.B. Corona? Was bedeutet „falsch positiver Test“? Selbst Menschen, die nicht im Bereich der Medizin oder Forschung tätig sind, müssen auf einmal die vielen Informationen zum Thema einordnen und Schlüsse daraus ziehen (für ihre eigene Gesundheit und die anderer). Daher ist es für Lerner wichtig, den Umgang mit Informationen und Quellen zu üben und nicht Fachwissen, sondern auch etwas über verschiedene Forschungsmethoden und Wege zur Erkenntnisgewinnung zu lernen.
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Quellen:
Gruber, H. & Stamouli, E. (2015). Intelligenz und Vorwissen (Springer-Lehrbuch). In E. Wild & J. Möller (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (S. 25–44). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-41291-2_2
Hofer, B. K. (2020). Epistemic Cognition: Why It Matters for an Educated Citizenry and What Instructors Can Do. New Directions for Teaching and Learning, 2020(164), 85–94. https://doi.org/10.1002/tl.20427